Zur Entstehung von


Im Jahr 2005 habe ich das erste Spiel einer Serie von Spielen veröffentlicht, deren Design inspiriert war von der Gestaltung zeitgenössischer Schlachtfeldkarten. Diese zeichnen sich visuell vor allem dadurch aus, wie sie Armeen darstellen, nämlich als geometrische, gerade Linien – die eine Armee in Blau, die andere in Rot. Dieses Erscheinungsbild nannte ich den Look.

Ich hatte zuvor viele konventionelle Hex-und-Counter-Wargames gespielt und daher war mir klar, daß keines den Look jemals einfangen könnte. Zwar gibt es viel Geometrie in diesen Spielen, aber es ist die Geometrie von Sechsecken, in einer strengen Struktur, die überhaupt nicht der Geometrie der linearen Kriegsführung entspricht.

Erstaunlicherweise waren frühe Spiele wie das deutsche "Kriegsspiel" aus dem 19. Jahrhundert sehr nah am Look konzipiert: Sie nutzten rechteckige Holzblöcke auf einer Landkarte ohne Felder. Ich wollte den Spielen also nicht etwas geben, was sie nie hatten, sondern ich wollte ihnen etwas zurückgeben, was ihnen zwischenzeitlich verloren gegangen war.

Man kann sich natürlich fragen, warum mir der Look so wichtig ist. Ist es nicht egal, wie ein Spiel aussieht, Hauptsache es macht Spaß und ist historisch genau?

Meiner Ansicht nach aber gehören diese Dinge zusammen. Wieviel Spaß ein Spiel macht, wie genau es ist und wie es aussieht, all das entscheidet darüber, ob ein Spiel zu einer Zeitmaschine wird oder nicht. Wir sind visuelle Wesen. Wir reagieren als erstes und besonders stark auf das, was wir sehen; das Sehen ist die Grundlage des emotionalen Verstehens.

Das "Kriegsspiel" hat jedoch auch seine Probleme, denn dort muß man Entfernungen messen. Dies führt dazu, daß nahezu identische Entfernungen wie z.B. 2,9 cm und 3,1 cm im Spiel einen gewaltigen Unterschied machen. Dieses Messen führt zu einer Pingeligkeit, die nicht recht zum Geist der Napoleonischen Ära passen will. Kein einziger Kommandeur hätte sich damals je den Kopf darüber zerbrochen, ob ein Gegner 99 oder 101 Meter entfernt ist.

Ich brauchte also einen Mechanismus zur Bestimmung von Positionen und Entfernungen. Aber welchen? Ich dachte zunächst an ein Punkt-zu-Punkt-System, favorisierte aber recht schnell ein Zonensystem. Zonensysteme finden seit vielen Jahren erfolgreich Verwendung, aber vor allem in strategischen Spielen, weniger in taktischen Spielen.

Den Durchbruch erzielte ich mit der Idee, daß Spielsteine nicht nur im Zentrum eines Gebiets stehen können, sondern auch an ihren Grenzen. Und genau damit hatte ich das grundlegende Design, mit dem ich weiterarbeiten konnte. Dummerweise hatte ich aber noch keine einzige Regel oder irgendeinen Mechanismus. Mir war klar wie das Spiel aussehen sollte, doch wie sollte es sich spielen?

Ich wollte vor allem ein kurzes Spiel; ein Spiel, das man an einem Nachmittag spielen kann, damit die Spieler nicht in die Verlegenheit kommen, aus Zeitmangel eine unvollendete Partie abbrechen zu müssen.

Die erste Schlußfolgerung war, die Anzahl der Spielsteine gering zu halten. Denn es ist unmöglich, ein Spiel mit vielen Spielsteinen in wenigen Stunden zu spielen, mögen die Mechanismen noch so simpel sein. Deswegen sollte mein Spiel nur wenig Spielsteine haben.

Darüberhinaus sollte die Spielzeit möglichst unbelastet sein. Darunter verstehe ich, daß ein Spieler seine Entscheidung in den eigentlichen Spielzug schnell umsetzen kann. (Man denke an Schach: Sobald ein Spieler sich für einen Zug entschieden hat, braucht er nur einen Augenblick, um ihn auszuführen; beim Schach sortiert ein Spieler keine Haufen von dünnen Pappplättchen, schaut in keine Tabellen, zählt keine Sechseckfelder zur Bestimmung von Entfernungen, ermittelt kein Angriffsverhältnis durch aufwendiges Bruchrechnen, und er würfelt nicht, nichts davon. Schach ist denken, ziehen, denken, ziehen; das ist das ganze Spiel.)

Unbelastete Spielzeit bedeutet jedoch nicht nur mechanische Effizienz. Es geht auch darum, keine unwichtigen Entscheidungen treffen zu müssen. Unwichtige Entscheidungen sollten aus einem Spiel verbannt werden. Ein Spieler sollte stets das Gefühl haben, daß es auf jede einzelne Entscheidung ankommt, weil sie wirklich wichtig ist.

Ein Teil der Lösung war, nicht nur die Anzahl der Spielsteine gering zu halten, sondern auch die Anzahl der Gebiete. Mit wenigen Spielsteinen in wenigen Gebieten, ist selbst die Bewegung eines einzelnen Spielsteins um nur einen Schritt von Bedeutung. Ein weiterer Gedanke resultierte aus einer Art Unfall: Frühe Versionen des Spiels erlaubten zu flexible Bewegungen. Es fühlte sich eher wie ein modernes Panzergefecht an, als wie ein Schlachtgetümmel im 19. Jahrhundert. Ich mußte das Spiel also entschleunigen, damit es dem Tempo der Kuriere, die die Befehle auf dem Schlachtfeld übermittelten, entsprach. Deswegen limitierte ich die Zahl der Züge. Wenn nur wenige Züge erlaubt sind, hat jeder einzelne Zug Bedeutung, weil man einen einmal gemachten Zug später nicht mehr so leicht rückgängig machen kann.

Und damit war ich dort, wo ich hinwollte: Jeder Spielstein ist wichtig. Jedes Gebiet ist wichtig. Jeder Zug ist wichtig.

Wegen des Simulationsaspekts wollte ich die Unterschiede der Truppengattungen herausarbeiten. Kavallerie, Infanterie und Artillerie sollten sich im Spiel anders anfühlen. (Dies hatte ich beim Spielen von Frank Davis' Wellington's Victory – ein Spiel über die Schlacht von Waterloo – gelernt. Das Herausarbeiten der Unterschiede ist alles.)

Infanterie ist das Rückgrat einer Armee. Eine der Besonderheiten in meinen Napoleonischen Spielen ist die Heftigkeit von Infanteriekämpfen. Wenn Infanterie aufeinanderstößt, sind Verluste unvermeidlich, und oft sehr hoch. Manch Spieler, der von anderen Spielen gewohnt ist, daß "Rückzug" ein recht harmloses Ergebnis ist, wird schockiert sein, wie desaströs ein Rückzug in meinen Spielen ist. Die engen Gefechtsformationen der Napoleonischen Zeit – notwendig, um die Soldaten kommandieren zu können – konnten sich bei einem Rückzug sehr leicht auflösen; ein Regiment war dann zu nichts mehr zu gebrauchen, selbst wenn es nur wenig Ausfälle zu beklagen hatte.

Kavallerie hingegen ist agil und sehr flexibel. Während in unwegsamen Gelände Infanterie das Mittel der Wahl ist, herrscht im freien Feld die Kavallerie, vor allem wenn es ums Verfolgen flüchtender Gegner oder um das Abschirmen eines Rückzugs geht.

Artillerie wiederum ist das genaue Gegenteil: Nutzlos, wenn der Kampf in Bewegung gerät, da noch langsamer in Stellung zu bringen als Infanterie; aber – wenn erst einmal positioniert – mit brutaler Wirkung, weil sie austeilen kann, ohne einzustecken. Sie ist die ultimative Waffe im Stellungskrieg.

ist das vierte Spiel, das den Look umsetzt, und es wird das letzte sein, zumindest von mir. Ursprünglich wollte ich lediglich den Erstling dieser Serie, Bonaparte at Marengo, für eine Zweitauflage etwas überarbeiten, aber über die Jahre veränderten sich so viele Regeln und Konzepte, daß es ein völlig eigenständiges Spiel wurde. Zwar ist die Schlachtordnung nahezu dieselbe, aber der Spielplan wurde stark verändert, um sowohl Graphik als auch topographische Genauigkeit zu verbessern.

Es gibt viele kleine Regeländerungen, aber die Krönung des Designs sind die Moralscheiben – die mir merkwürdigerweise erst spät im Entwicklungsprozeß einfielen. Keins der anderen Spiele hat etwas Vergleichbares. Die besondere Stärke der Moralscheiben liegt in der Art und Weise wie bestimmte Gebiete Bedeutung erlangen; es ist nicht das Design, das ein Gebiet zu einem Gebiet macht, das es unbedingt zu halten gilt, sondern es sind die Entscheidungen der Spieler. Armeen haben oft nicht bis zum letzten Mann um diese oder jene Stellung gekämpft, weil die Stellung per se so bedeutend war, sondern weil der reine Akt des Kämpfens sie zu einer bedeutenden Stellung gemacht hatte. Die Spieler werden mir, so glaube ich, sicherlich zustimmen, daß die Moralscheiben seinen eigenen Charakter geben, mit dem es sich deutlich – und positiv – von seinen Vorgängern unterscheidet.

Bonaparte at Marengo ist ein gutes Spiel. Damals, im Jahr 2005, war ich stolz darauf, und ich bin es immer noch. Jedoch glaube ich, daß ich erst mit all das erreicht habe, was ich mit dem Vorgänger hatte erreichen wollen. Wie die Dinge liegen, haben Zeit und Alter mich nun eingeholt, und ich bin mir sicher, daß dies das letzte Spiel ist, das ich entwickelt haben werde. Ich denke, es ist eine schöne Art sich zu verabschieden, und ich hoffe, daß Sie derselben Meinung sind.

Rachel Simmons
alias Bowen Simmons
Sunnyvale, November 2021



Download der Spielregel
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